Die Stadt Neapel wurde einst nahezu komplett aus Tuffstein errichtet. Anders als anderenorts musste das Baumaterial aber keinesfalls über weite Wege transportiert werden. Es stammte vielmehr aus ergiebigen Steinbrüchen vor Ort – unterhalb der Stadt selbst.
Bereits vor 5.000 Jahren sollen die damaligen Einwohner Teile des vulkanischen Tuffsteins freigelegt und diesen als Baumaterial genutzt haben. Im 5. Jahrhundert vor Christus gruben die Griechen an dieser Stelle dann die ersten unterirdischen Regenwasserspeicher und gewannen gleichzeitig Tuffstein zur Errichtung von Bauwerken über der Erde. Die Römer folgten später ihrem Beispiel und schufen ein komplexes System aus Aquädukten, Zisternen und Kanälen, Tunneln und Höhlen – quasi eine Stadt unter der Stadt. Das Tuffstein-Labyrinth liegt knapp 40 Meter unterhalb Neapels und erstreckt sich über eine Länge von 80 Kilometern. In jüngerer Zeit wurde sogar ein römisches Theater (Teatro Romano) in Neapels Unterwelt entdeckt. Von einer unscheinbaren Wohnung aus führt heute eine Treppe dorthin hinab. Außer einigen Mauerresten ist von dem antiken Schauspielhaus allerdings nicht mehr allzu viel erhalten.
Im 2. Weltkrieg führten die Neapolitaner die unterirdische Höhlenstadt einer neuen Nutzung zu: Sie bot einen ausgezeichneten Schutz vor Luftangriffen. Das Leben verlagerte sich deshalb zunehmend von der Erdoberfläche in Neapels Untergrund. In den Hohlräumen entstanden menschliche Behausungen, es wurden provisorische Toiletten mit Holzwänden errichtet, Stromkabel verlegt, Möbel aufgestellt. Was als Luftschutzkeller seinen Anfang genommen hatte, entwickelte sich später zunehmend zu einer auf Dauer angelegten Siedlung unterhalb der Stadt. Ganze Familien richtet sich hier unten ein, zogen ihre Kinder unter der Erde auf. Die Wohnungsnot in Neapel ließ abertausenden von Neapolitanern auch nach dem Krieg über Jahre hinweg kaum eine andere Alternative. Heute erinnern noch alte Möbelteile in den Gängen an die damaligen Armutsquartiere.
Aus der Kriegs- und Nachkriegszeit stammt vermutlich auch eine in Neapel weit verbreitete Legende: Die Mär vom Hausgeist Munaciello. Dem Volksglauben nach handelt es sich bei ihm um einen gespensterhaften Mönch, der in der Gestalt eine kleinen Jungen oder eines alten Mannes erscheint und Neapels Bürgern so manchen Streich spielt: Das geheimnisvolle Wesen, so erzählen es einige ältere Neapolitaner bis heute, haust in den Tuffsteinhöhlen unter der Stadt und sucht von Zeit zu Zeit die Oberfläche auf, um Gegenstände aus den Häusern der Menschen verschwinden zu lassen. Viele der Jüngeren haben aber eine viel profanere Erklärung parat: Sie vermuten, dass in Notzeiten arme Kinder, die in Neapels Unterwelt lebten, des nachts nach oben in die Bürgerhäuser schlichen, um dort den einen oder anderen Leckerbissen zu stibitzen und so ihren Hunger zu stillen. War etwas plötzlich wie von Geisterhand verschwunden, konnte es nach dem Aberglauben jener Zeit aber nur der Munaciello gewesen sein. In späteren Jahren schüttete man die Gänge unter der Stadt zwar zu, die Legende vom kleinen Mönch blieb jedoch erhalten.
Erst im Jahre 1979 begann man sich in der Stadt wieder auf Napoli Sotterranea. Grund dafür war ein Großbrand in der Altstadt. Die Feuerwehr hatte tagelang vergeblich gegen die Flammen gekämpft – bis sie schließlich eine Mauer aufbrach, hinter der sich eine in die Tiefe führenden Treppe verbarg. An deren Fuß entdeckte man den unteririschen Brandherd und das weit verzweigte Gänge-System. In der Folge begannen die Neapolitaner damit, die Tuffsteinhöhlen- und Tunnel wieder freizulegen. Heute werden Führungen durch Napoli Sotterranea angeboten. Die Anlaufstelle für Besichtigungen finden Besucher an der Piazza San Gaetano.